Das AKF-Interview (Nr. 10): Sex und Gender wirken auf Gesundheit – Geschlechtergerechte medizinische Forschung, Behandlung und Gesundheitsinformation

Das AKF-Interview (Nr. 10): Sex und Gender wirken auf Gesundheit – Geschlechtergerechte medizinische Forschung, Behandlung und Gesundheitsinformation

Sylvia Groth
Aus unserer Reihe „Das AKF-Interview“: Interview mit Sylvia Groth, Frauengesundheitsaktivistin und Medizinsoziologin aus Graz (Österreich)

AKF: Warum braucht es Geschlechtergerechtigkeit in der medizinischen Forschung?

Sylvia Groth: Der Faktor Geschlecht, also das biologische Geschlecht (Sex) und das soziale Geschlecht (Gender), ist eine entscheidende Determinante für Gesundheit und Krankheit von Frauen und Männern.
Das biologische Geschlecht ist allerdings nicht strikt zweigeteilt. Es ist eher als ein Kontinuum von Sex-bezogenen Merkmalen zu sehen. Welche Geschlechtsidentität eine Frau (oder ein Mann) hat, interagiert zudem mit dem sozialen Geschlecht und weiteren Determinanten wie Einkommen, Bildung, Arbeit, soziale Beziehungen und Umwelt. Das zugeschriebene Geschlecht prägt Erwartungen, Aufgaben, Verantwortlichkeiten und zur Verfügung stehende Ressourcen. Nicht nur Unterschiede und Ähnlichkeiten von Frauen und Männern, sondern die Ungleichheit und die Verteilung von Macht in der Gesellschaft sind bestimmend für den gesundheitlichen Status der jeweiligen Person.

AKF: Können Sie einige konkrete Bespiele nennen?

Sylvia Groth: Dass der Faktor Geschlecht auf Gesundheit und Krankheit wirkt, ist evidenzbasiert für viele Bereiche nachgewiesen. Zum Beispiel bei der Erkrankung an Darmkrebs: Frauen erkranken durchschnittlich fünf Jahre später als Männer. Das beeinflusst z. B. die Frage, ab wann eine Darmspiegelung bei Frauen sinnvoll ist. Der Krebs siedelt sich außerdem häufiger an anderen Stellen im Darm an als bei Männern. Ein weiteres Beispiel ist die unterschiedliche Verstoffwechselung von Medikamenten und daher die unterschiedliche Wirkung von Arzneimitteln. Dies kann sich auf die Dosierung und das Nebenwirkungsprofil auswirken. So verstoffwechseln Frauen ein häufig verschriebenes Schlafmittel, Zolpidem, sehr viel langsamer als Männer. Mit der gleichen Dosis sind Frauen viel häufiger müde am nächsten Morgen und haben daher Probleme beim Autofahren. Seit 2014 wird für Frauen nur noch die Hälfte der Dosis von Männern verschrieben.
Die Symptomatik von Erkrankungen und die erhobenen Befunde können sich bei Frauen und Männern so deutlich unterscheiden, dass Fehldiagnosen gestellt oder Erkrankungen übersehen werden. Dies ist z. B. beim Herzinfarkt und der koronaren Herzkrankheit der Fall, wie man inzwischen weiß.
Die Beispiele lassen sich in einer langen Liste fortsetzen. Die Geschlechtsspezifik ist in vielen Bereichen noch gar nicht ausreichend untersucht. Auf Frauen einfach die vorhandenen Erkenntnisse in gleicher Weise anzuwenden wie bei Männern, damit kann man unter Umständen viel falsch machen.

AKF: Das heißt also, wir brauchen mehr geschlechterbezogene Forschung?

Sylvia Groth: Ja, und nicht nur mehr, sondern auch eine konsequentere Durchführung. Denn die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine durchgängig geschlechtergerechte/frauengerechte Diagnostik und Therapie sind noch unvollständig. Eine Übersichtsarbeit zu dieser Frage identifizierte beispielweise in den Ergebnissen von systematischen Reviews, also hochwertigen Übersichtsarbeiten, Verzerrungen. Sie entstehen, wenn der Faktor Geschlecht nicht oder falsch berücksichtigt wird (was als Sex- und Gender-Bias bezeichnet wird). Obwohl diese Studienform nach bisherigen Kriterien der evidenzbasierten Medizin den höchstem Evidenzgrad hat, waren die untersuchten Reviews bezüglich der Variable Geschlecht unvollständig oder ungenau. Diese Lücken werden bisher nicht transparent gemacht. Nach der Europäischen Kommission ist eine Sex- und/oder Gender-Analyse nur bei 3–4 % der im Zeitraum 2010–2013 veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel der Humanwissenschaften und der Medizin gemacht worden.

AKF: Was muss da anders werden?

Sylvia Groth: Es braucht eine geschlechtergerechte Forschung, die die Fragen beantwortet, die für Frauen tatsächlich relevant sind. Hierzu gibt es zahlreiche Empfehlungen, z. B. von der Europäi-schen Kommission und von den Canadian Institutes of Health Research. Diese Empfehlungen müssen nun endlich flächendeckend umgesetzt werden. In Folge sollten dann nur die wissenschaftlichen Arbeiten publiziert werden, die diese Vorgaben erfüllen. Auch dazu gibt es bereits Empfehlungen für die HerausgeberInnen medizinischer Fachzeitschriften. Die HerausgeberInnen sitzen an einem entscheidenden Hebel. Denn eine Forscherin oder ein Forscher muss möglichst hochrangig veröffentlichen, um wissenschaftlich anerkannt zu sein.

AKF: Sie sagen, es gibt zu wenig aussagekräftige Gesundheitsinformationen für Frauen. Wie ist hier der Zusammenhang zur Forderung nach geschlechtergerechter Forschung?

Sylvia Groth: Wissen über Gesundheit ist einer der beeinflussenden Faktoren auf Gesundheit und Krankheit. Zu sichern ist daher, dass Frauen ihren Bedürfnissen entsprechende und für sie ver-ständliche Gesundheitsinformationen und Beratung erhalten. Das ist wichtig für ihre Gesundheitskompetenz. Zu Gesundheitsinformationen zählen Inhalte von Websites, Artikel in Zeitschriften oder auch Broschüren.
Und Gesundheitsinformationen ermöglichen Frauen evidenzbasiert entscheiden zu können. Gute Gesundheitsinformation betrifft nicht nur Frauen mit einem Gesundheitsproblem oder einer Erkrankung, sondern auch die BürgerInnen und Versicherten, die wissen wollen, wie sie ihre Gesundheit erhalten oder Krankheiten verhüten können. Dies sind ja auch besondere Anliegen des AKF.

AKF: Wie kann eine Frau erkennen, welche Gesundheitsinformation diesen Kriterien entspricht?

Sylvia Groth: Verlässliche und relevante Gesundheitsinformation zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Wirkung des biologischen (Sex) und sozialen Geschlechtes (Gender) auf Gesundheit und Krankheit als wissenschaftliche Evidenz mitberücksichtigt. Das bedeutet praktisch, dass Studien nur dann den aktuellen Standards der Forschung entsprechen, wenn die Fragestellung relevant ist, das Studiendesign geschlechterbezogen angelegt ist, die Anzahl der untersuchten Frauen und Männer angegeben wird, die Analysen für Frauen und Männer getrennt durchgeführt werden und die Ergebnisse nach Geschlecht ausgewertet sind. Erst wenn solche Ergebnisse vorhanden sind, können sie in gute Gesundheitsinformationen einfließen.
Zudem müssen Gesundheitsinformationen evidenzbasiert sein.

AKF: Gibt es auch schon Empfehlungen für geschlechtergerechte Gesundheitsinformationen für Konsumentinnen und Versicherte?

Sylvia Groth: Ja. Die „Gute Praxis Gesundheitsinformation 2.0“ des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin legt fest, dass Gesundheitsinformation geschlechterspezifische Variablen berücksichtigen soll: Wurden die Kenntnisse, die in die Gesundheitsinformation eingehen, an Frauen und an Männern untersucht und ausgewertet?
Die Gute Gesundheitsinformation Österreich, die darauf basiert, geht noch einen Schritt weiter. Sie fordert eine durchgängig geschlechtergerechte Gesundheitsinformation. Dies sichert die Qualität der Gesundheitsinformation für Frauen und für Männer.

AKF: Eigentlich ist es ja erstaunlich, dass es an dieser Stelle so viel Nachhofbedarf gibt. Denn die Gesetzeslage schreibt doch Geschlechtergerechtigkeit vor, oder?

Sylvia Groth: Ja, so ist es. Die Geschlechtergerechtigkeit hat gesetzliche Vorgaben u. a. im Amsterdamer Vertrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen, dem Präventionsgesetz, das bestimmt, dass die Krankenkassen alle Leistungen geschlechtergerecht ausgestalten sollen, um sozial- und geschlechterbezogene Ungleichheiten zu mindern, wie auch dem Arzneimittelgesetz. Dies wird u. a. umgesetzt in der Datenbank für unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das Recherchen nach Geschlecht ermöglicht. Der Gesetzgeber hat dies auch 2013 im Patientenrechtegesetz wie auch im Sozialgesetzbuch verankert.

AKF: Ein Anfang ist also an verschiedenen Stellen gemacht, dennoch bleibt noch viel zu tun. Was sind Ihre zentralen Forderungen?

Sylvia Groth: Viele Ärzte und Ärztinnen wie auch Patientinnen wissen über die Folgen eines Sex- und Gender-Bias nicht ausreichend Bescheid, d. h. das Problembewusstsein darüber, welchen Schaden es anrichten kann, Geschlecht nicht zu beachten, ist noch nicht hoch genug. Das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der WissenschaftlerInnen ist zu schärfen. Man muss erkennen, dass das biologische und soziale Geschlecht mit weiteren sozialen Faktoren wie Einkommen, Bildung, Alter, gesundheitliche Einschränkungen, Herkunft, Sprache für Gesundheit und Krankheit mitverantwortlich sind. Wenn ich auf die Gefahren des Alkoholkonsums aufmerksam machen möchte, muss ich vermitteln, dass Frauen weniger Alkohol vertragen und in anderen Situationen trinken. Frauen als Angehörige sind auch weitaus stärker von der Alkoholsucht ihrer Männer betroffen, da Männer häufiger Alkoholiker sind. Die gesundheitliche Versorgung muss daher geschlechtergerecht gestaltet werden. Öffentliche Förderungen und Aufträge für gesundheitswissenschaftliche und medizinische Forschung sollten nur an die AuftragnehmerInnen vergeben werden, die evidenzbasiert, und damit auch geschlechtergerecht, vorgehen.
Auch in der Aus- und Weiterbildung braucht es Änderungen. Die Inhalte der Ausbildungsordnungen der medizinischen, pflegerischen, physio- und ergotherapeutischen sowie der gesundheitswissenschaftlichen Ausbildungen sind geschlechtergerecht auszurichten.
Alle Gesundheitsinformationen sollten evidenzbasiert und geschlechtergerecht sein und auch nur dann öffentlich finanziert werden, wenn sie das wirklich sind. Besonders für die Gruppen von Frauen (und Männern), die eine niedrige Gesundheitskompetenz haben, ältere Frauen, Frauen mit wenig Bildung, wenig Einkommen und Frauen mit Migrationshintergrund muss ein Zugang zu verständlich aufbereiteter Information geschaffen werden.

AKF: Vielen Dank für dieses spannende Interview.

Das Interview führte Dagmar Hertle, 1. Vorsitzende des AKF, am 2.4.2017 in Berlin.

 

Literatur

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