Das AKF-Interview (Nr. 7): Das neue nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ ist ein Durchbruch

Das AKF-Interview (Nr. 7): Das neue nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ ist ein Durchbruch

Ulrike Hauffe
Aus unserer Reihe „Das AKF-Interview“: Interview mit Ulrike Hauffe, Dipl. Psychologin, Landesbeauftragte für Frauen des Landes Bremen, Vorsitzende des Frauen- und Gleichstellungsausschusses des Deutschen Städtetags (DST)
Stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der BARMER

AKF: Liebe Ulrike Hauffe, warum ist das neue Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt” ein Durchbruch?

UH: Weil hier auf hoher nationaler Ebene analysiert und festgestellt wird, dass im Bereich der Geburtshilfe deutlicher Handlungsbedarf besteht. Zugleich werden Maßnahmen und Akteure benannt, die Veränderungen anstoßen können und Verbesserungen schaffen sollen. Die Inhalte sind allesamt nicht wirklich neu. Der AKF und andere benennen und fordern sie seit Jahren – aber neu und damit sensationell ist das gemeinsame Anerkennen dieser Inhalte durch bedeutende Institutionen des Gesundheitswesens und die gemeinsame Selbstverpflichtung aktuelle Zustände zu ändern.

AKF: Wie kam es dazu, von selbst doch sicherlich nicht?

UH: Natürlich nicht. Dem Prozess – und es war ein langer, konflikt- und diskussionsreicher Prozess – sind viele Kampagnen vorausgegangen. Wesentlich waren hier die beiden AKF-Positionspapiere zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sowie zur Kaiserschnittrate. Beide Papiere sind überschrieben mit „Es ist höchste Zeit…“. Dazu ist ganz sicher die AKF-Fachtagung im Juni 2014 zur Senkung der Kaiserschnittrate zu nennen: „Zeit zu handeln: Kaiserschnittrate senken – normale Geburt fördern“ .Eine derart deutliche Warnung aus berufenem Munde wurde zwar auch dann noch nicht von den politisch Verantwortlichen gehört, aber der Druck, der hier entstanden ist, ist dann doch angekommen. Übrigens nicht nur dergestalt, dass wir nun das zehnte Gesundheitsziel haben. Schon vor zwei Jahren hat die Konferenz der Frauen- und Gleichstellungsministerinnen und -minister (GFMK) einstimmig beschlossen, dass die Zustände in der Geburtshilfe und die hohen Schnittraten nicht länger hinnehmbar seien. Die GFMK ist das bundespolitisch höchste Ländergremium in diesem Bereich. Auch das war bereits ein Durchbruch. Das haben leider nur wenige Medien so wahrgenommen. Neben dem Druck der Fachverbände gibt es in meinen Augen aber auch zunehmenden Druck von unten, nämlich wieder von werdenden Eltern – wie wir es in den 70er- und 80er-Jahren schon einmal erlebt haben. Der Verein Mother Hood e. V. beispielsweise, der als Elternverein gemeinsam mit anderen Fachverbänden und den Hebammen gegen die Pathologisierung und Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt ins Feld zieht, hat hohes Mobilisierungspotenzial.

AKF: Wie ist denn das Gesundheitsziel konkret entstanden?

UH: Der AKF hatte sich bei einer seiner Jahrestagungen mit dem Thema „Nationale Ge-sundheitsziele“ befasst. Bei dieser Tagung bekam der Vorstand den Auftrag, den AKF in die Prozesse zur Entwicklung von Gesundheitszielen zu integrieren und zwei Ziele vorzuschlagen: „Die gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen“ und „Die Entmedikalisierung von Schwangerschaft und Geburt“. Die Aufnahme in den leitenden Ausschuss geschah durch einen Antrag an den Kooperationsverbund gesundheitsziele.de. Der AKF wurde aufgenommen und hat sich dann erfolgreich für die Bearbeitung des letztgenannten Ziels eingesetzt. Zunächst wurde beschlossen, dieses Ziel dem Gesundheitsziel „Gesund aufwachsen“ unterzuordnen. Zum Ende des Arbeitsprozesses wurde jedoch entschieden, dass die erarbeiteten Inhalte eine so große Bedeutung und Eigenständigkeit haben, dass das Ziel als eigenes Gesundheitsziel aufgewertet wurde.

AKF: Welche Organisationen haben daran mitgearbeitet – und wie ist der Diskussionsprozess gelaufen?

UH: 36 Organisationen haben letztendlich kontinuierlich in der Arbeitsgruppe „Gesundheit rund um die Geburt“ mitgearbeitet. Sie alle aufzuführen würde zu weit gehen. Ich versuche hierzusammenfassend zu antworten:

    • Die Leitung der AG übernahm Thomas Altgeld von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V., weil er die Leitung für das Ziel „Gesund aufwachsen“ hat und die Integration des Ziels “Gesundheit rund um die Geburt” in dieses Ziel zunächst ja geplant war.
    • Die Hebammen waren vertreten durch Hochschullehrerinnen der Hochschule für Gesundheit – Bochum, der Medizinischen Hochschule – Hannover, der Hochschule Osnabrück und der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V.
    • Die Frauenärzte und -ärztinnen waren vertreten durch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (Hochschullehrer der Universitätskliniken Jena und Frankfurt/M.), die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V. und den AKF.
    • Die psychologische Wissenschaft wurde durch die Universität Bielefeld repräsentiert.
    • Auch die Kinder- und Jugendmedizin war durch das Universitätsklinikum Lübeck vertreten.
    • Die Bundesärztekammer sowie die kassenärztliche Bundesvereinigung und
    • die deutsche Krankenhausgesellschaft waren dabei.
    • Als Bundes- und Länderministerien haben das Bundesministerium für Gesundheit, zwei Vertreterinnen der Gesundheitsministerkonferenz der Länder, eine Vertreterin aller Frauen- und Gleichstellungsministerien und eine der Jugend- und Familienministerien mitgearbeitet.
    • Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen und
    • der Öffentliche Gesundheitsdienst haben mitgearbeitet.
    • Und selbstverständlich waren einige Krankenkassen beteiligt – AOK und BARMER – auch der Medizinischen Dienst des Spitzenverbands und der GKV-Spitzenverband.
    • Das Robert Koch Institut durfte nicht fehlen, auch nicht
    • die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), mit dem Zentrum Frühe Hilfen sowie
    • pro Familia.

Es ist unschwer zu erkennen, welches Diskussionspotential in dieser Zusammensetzung steckt. Nach anfänglich durchaus schwierigen Debatten hat die Gruppe sehr schnell konsensorientiert gearbeitet. Der wichtigste Schritt zu Beginn der Arbeit war die Einigung auf eine Grundhaltung, auf deren Boden das Gesundheitsziel aufgebaut werden sollte. Kurz gesprochen heißt das: an den Ressourcen der Frauen ansetzen. Konkret und “unfachlich” formuliert ist damit gemeint: Frau „kann“ Schwangerschaft und Frau „kann“ gebären. D. h., wir hatten zu beraten und zu konzipieren, wie diese Fähigkeiten Unterstützung erfahren können. Und wir hatten herauszufinden, wo die Fallen einer unnötigen Pathologisierung zu finden sind – und wie wir sie beeinflussen können. Vielleicht ahnt die eine oder der andere, dass diese Haltung und Sicht auf das Geschehen immer wieder aufgerufen werden musste, denn zu leicht rutscht man ja in die eher risikoorientierte und aus dieser Sicht hilfebetonende Haltung.

AKF: Und jetzt kommen wir zum Eigentlichen. Was ist im Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ festgehalten?

UH: Ich will es noch einmal konkret anhand des Ziels darstellen: Der Satz, der in meinen Augen die Kernbotschaft enthält, steht gleich auf der ersten Seite: Das Gesundheitsziel nimmt eine „an Wohlbefinden und Gesundheit ausgerichtete Perspektive ein“, heißt es, und dass „vorhandene Ressourcen und Potenziale umfassend gefördert und eine Pathologisierung vermieden“ werden soll – Leitgedanke ist also ein positives Verständnis von Potenzial und Ermächtigung, die so genannte Salutogenese, und nicht, wie sonst im Gesundheitssystem symptomatisch, die Definition über Risiko und Krankheitsgefährdung. Dafür haben Frauenverbände und allen voran der AKF lange gekämpft. Dass sich diese Haltung nun auch im Mainstream-Medizinbetrieb durchsetzt, ist ein Riesenerfolg. Für uns, vor allem aber für schwangere Frauen und ihre Familien. Das große Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ wird dann unterteilt in fünf Abschnitte, die Ziele 1 bis 5: Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, erstes Jahr und allgemeine Rahmenbedingungen.
Wir haben uns übrigens sehr bewusst dazu entschieden, das erste Lebensjahr mit in die Ausarbeitung einzubinden. Das war ja nicht zwingend. Wir entwickelten jedoch die Haltung, dass die Kultur des Wochenbetts und die der ersten Bindungszeit unbedingt formuliert und gewürdigt werden soll.
Jedes der 5 Ziele ist durch mehrere Teilziele ausformuliert, für deren Umsetzung Maßnahmeempfehlungen aufgestellt wurden. Das allein würde aber nicht ausreichen, sondern interessant ist natürlich, dass institutionelle Akteurinnen und Akteure sowie relevante Berufsgruppen und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren den jeweiligen Teilzielen zugeordnet wurden.

AKF: Kannst Du das an einem Beispiel erläutern?

UH: Ich nehme mal den zweiten Bereich, da geht es konkret um den Geburtsverlauf. Dieses Unterziel lautet „Eine physiologische Geburt wird ermöglicht und gefördert“ und dann folgen drei Teilziele, nämlich Förderung einer interventionsarmen Geburt, die Entwicklung spezifischer Angebote für Risikogeburten und Unterstützungsbedarfe sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen unter einer Geburt. Diese Ziele werden als zu erreichen gesetzt und dann Maßnahmen genannt, wie das geschehen soll. So soll das Konzept der frau-zentrierten Betreuung weiterentwickelt und bei allen Berufsgruppen implementiert werden. Evidenzbasierte und leicht verständliche Informationen zu Eingriffen in den Geburtsverlauf sollen erstellt werden, Bonding ist zu ermöglichen, die verschiedenen Berufsgruppen sollen gemeinsam Leitlinien und Standards erarbeiten. Dem wohnt ein gemeinsamer Gedanke inne, der sich durch das gesamte Gesundheitsziel zieht und auch immer für den jeweiligen Aspekt passend formuliert wird: Die Gebärende steht im Zentrum, sie soll über die Geburt ihres Kindes bestimmen können – auch und gerade, wenn Eingriffe nötig werden.
Für uns, die wir schon so lange daran arbeiten, dass Frauen dieses Geschehen aus sich heraus maßgeblich bestimmen, ist das alles ein alter Hut, aber für viele hauptberuflich Beteiligte im klinischen Geburtshilfeprozess kommt das einer 180-Grad-Wende gleich. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings auch: Die Eins-zu-Eins-Betreuung einer Gebärenden durch eine Hebamme konnten wir nicht durchsetzen.

AKF: Papier ist bekanntlich geduldig. Was muss jetzt geschehen?

UH: Formal ist das Gesundheitsziel eine Art Selbstverpflichtung der beteiligten Institutionen. Die Maßnahmen tragen deshalb auch den Charakter von Empfehlungen, denen man ja bekanntlich folgen kann – oder auch nicht. Das mag manche enttäuschen. Aber wir müssen uns das Niveau ansehen, auf dem wir diese Einigung miteinander getroffen haben: das ist nämlich ganz oben. Die Bundesspitzen der beteiligten Verbände haben diese Inhalte beschlossen und die Diskussionen darum waren langwierig, äußerst kontrovers und mitunter sehr zäh. Sich hierauf zu verständigen und es als Selbstverpflichtung anzuerkennen, wird Handeln nach sich ziehen. Diejenigen, die sich auf dieses Ziel verpflichtet haben, müssen sich nun auch an die Umsetzung machen. Jetzt kann niemand mehr kneifen. Das geht nicht, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Und das wird keine der Parteien wollen.
Ein wichtiger Diskussionsprozess, der zu einer Verabredung führte, war die Intensivierung der Zusammenarbeit von Frauenärztinnen, -ärzten und Hebammen schon in der Schwangerschaft. Und selbstverständlich muss aus diesem Versprechen auch die formale Klärung dieser Zusammenarbeit in der Schwangerschaft erfolgen.
Lokale Bündnisse zur Förderung der normalen Geburt haben Erfolg. Wir sehen das an einigen beispielgebenden Städten wie Bremen und München. Andere folgen schon. Dieses Gesundheitsziel ist eine Einladung an alle Kommunen, ihre Möglichkeiten zur Veränderung in die Hand zu nehmen.

AKF: Was kann der AKF machen?

UH: Laut werden. Prozesse und Ergebnisse einfordern.
Das Gesundheitsziel mit seinen konkreten Teilzielen ist wie ein Pflichtenheft für die Beteiligten. Das muss nun von vielen abgearbeitet werden. Schon klar, dass das dauern wird und dass ganz sicher auch nicht jede Maßnahme mit gleichbleibend großem Engagement angegangen wird. Das hat übrigens nichts mit Nicht-Wollen zu tun, sondern mit der Langfristigkeit der hier angelegten Prozesse und dem ihnen innewohnenden Verschleißpotenzial. Die Gefahr, dass das eine oder andere Teilziel auf der Strecke bleibt, ist in meinen Augen durchaus real. Deshalb müssen wir weiterhin nachfragen, auch laut nachfragen und einfordern, dass die Schritte, mit denen wir das Ziel erreichen wollen, auch gegangen werden. Aber wir tun das auf starker Grundlage: Auf gemeinsam geeinten Werten und Zielen aller Beteiligten, hinter die es nun nicht mehr zurückgeht. Und außerdem: nicht wenige Akteurinnen sind (juristische) Mitglieder des AKF. Wie kann besser Einfluss genommen werden als mit gemeinsam verabredeten Schritten.

Das Interview führte Karin Bergdoll, 2. Vorsitzende des AKF.

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