Die Notwendigkeit der Gender Medizin von Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk
Gender Medizin
Die Notwendigkeit der Gender Medizin
Prof. Dr.med.Gabriele Kaczmarczyk
Auszüge aus einem Vortrag, gehalten am 30.6.2006 auf der Jahrestagung der Kommission Klinika der Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten an deutschen Hochschulen, Rauschholzhausen
Warum haben Frauen in fast allen Ländern dieser Erde eine höhere Lebenserwartung als Männer – unabhängig von der absoluten Lebenserwartung in Jahren (die in Entwicklungsländern übrigens meist nur halb so hoch ist wie in Deutschland)? Diese Tatsache ist ein gutes Beispiel dafür, dass sowohl das biologische Geschlecht (sex) als auch das soziale Geschlecht (gender) in die Statistik eingehen:
Sex: eine höhere Säuglingssterblichkeit bei Jungen
Gender: ein später stärker ausgeprägtes Risikoverhalten bei Männern (Alkohol, Tabak), aber auch berufsbedingt eine höhere Unfallhäufigkeit
Doch abgesehen von der unterschiedlichen Lebenserwartung (es geht auch darum, unter welchen Umständen das höhere Alter erreicht wird), bestehen in der medizinischen Ausbildung, Praxis, Klinik und Forschung in Deutschland erhebliche Defizite, was eine sex- und gendersensible Betrachtung von Gesundheit und Krankheit betrifft. Das erste und auch noch recht bescheidene deutsche Werk über „Gender Medizin“ (hrsg. von Rieder und Lohff, Springer Verlag) erschien erst 2004, Curricula für die Studierenden der Medizin werden mühsam von einigen Engagierten (meist Frauen) an den Universitäten in Gang gesetzt. Dabei gibt es zahlreiche Vermutungen und Hinweise, aber auch harte Daten über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern: die Symptome eines Herzinfarktes äußern sich oft (nicht immer!) unterschiedlich, eine Reihe von Pharmaka wirkt nachweislich unterschiedlich (Aspirin, Paracetamol, Betablocker) etc.
Die Unterschiede in der Verstoffwechselung von Substanzen – bedingt durch die unterschiedliche Köperzusammensetzung und die Ausscheidungskinetik – sind zwar z.T. erforscht, die Ergebnisse finden jedoch keinen Eingang in die tägliche Verschreibungspraxis der Medizin. So erhält, wie sich leicht errechnen lässt, eine schlanke, ältere Frau mindestens ein Drittel mehr Wirkstoff als ein normalgewichtiger jüngerer Mann. Aber: viel hilft eben nicht viel…
Überdosierung hat Nebenwirkungen! Dies gilt z.B. auch für die Hormonersatztherapie, die sowohl bei Frauen als auch bei Männern ein äußerst lukratives Geschäft ist. Wahrscheinlich sind viele Knochenbrüche bei älteren Menschen auch durch medikamentös verursachten Schwindel und Gangunsicherheit bedingt, etc.
Leider gibt es auch nach der Novellierung des Arzneimittelgesetzes vor knapp zwei Jahren für die pharmazeutische Industrie nicht die Auflage, bei der Testung von Medikamenten alters- und geschlechtsspezifisch mit adäquaten Fallzahlen vorzugehen – der Nachweis der „Wirksamkeit“ bei Frauen reicht hier nicht aus. Frauen sollten auch leichter in Arzneimittelprüfungen einbezogen werden, das Argument der Gefahr einer unerkannten Schwangerschaft und möglicher Fruchtschädigung lässt sich, wie andere Länder uns zeigen, durchaus entkräften.
Wer die moderne Universitätsmedizin aufmerksam und kritisch betrachtet, wird einer Reihe von überholten Vorstellungen und Traditionen begegnen, die überwunden werden müssen, wenn sowohl in der Krankenversorgung mit all ihren unterschiedlichen Aspekten wie auch in Lehre und Forschung eine geschlechtssensitive Betrachtungsweise verankert werden soll. Es ist für beide Geschlechter wichtig.