Das AKF-Interview (Nr. 14) zum 9. Jahrestag der UN-Behindertenrechtskonvention: Zur gynäkologischen Versorgung von Frauen mit Behinderung

Das AKF-Interview (Nr. 14) zum 9. Jahrestag der UN-Behindertenrechtskonvention: Zur gynäkologischen Versorgung von Frauen mit Behinderung

Ulrike Haase
Aus unserer Reihe “Das AKF-Interview”: Vor genau neun Jahren trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Aus diesem Anlass sprachen wir mit Ulrike Haase. Sie ist zuständig für das Projekt „Geschlecht, Behinderung, Gesundheit und Migration“ im Netzwerk behinderter Frauen Berlin e. V. In diesem Rahmen arbeitet sie als behinderte Frau u. a. in der Interessenvertretung für Frauen mit Behinderung und als Sozialberaterin. Sie hat den „Runden Tisch barrierefreie frauenärztliche Versorgung“ in Berlin (mit)initiiert und ist eine der Sprecherinnen.
Von 2014 bis 2017 war sie Vorstandsmitglied des AKF.

AKF: Du bietest u. a. Beratungen für Frauen mit Behinderungen an. Sind auch Frauen dabei, die eine Empfehlung für eine frauenärztliche Versorgung wünschen?

Ja, das kommt durchaus vor, weil es schwierig ist, eine Praxis zu finden, die barrierefrei zugänglich ist. Die von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin bereitgestellten Informationen zur Barrierefreiheit von Arztpraxen sind häufig irreführend. Sie beruhen auf der Selbstauskunft von Ärzt*innen. Oft stehen Frauen vor einer gynäkologischen Praxis, zum Beispiel mit einem Rollstuhl, und kommen nicht rein. Es ist zu wenig Platz im Umkleidebereich, die Toilette ist nicht rollstuhlgerecht und vor allem: der gynäkologische Untersuchungsstuhl ist für Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen nicht geeignet.

AKF: Wie schätzt du den Bedarf an gynäkologischen Angeboten ein? Ist das ein häufiges Thema in deiner Beratung?

Es kommt sicherlich nicht so häufig vor, wie man annehmen könnte. Es bleibt zu vermuten, dass eine Vielzahl behinderter Frauen Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnimmt. Es werden nicht hinreichend Daten erhoben, mit welchen frauenheilkundlichen Anliegen sich Frauen mit Behinderung in welche Behandlungsform begeben, ob ambulant oder stationär.

AKF: Was bedeutet „umfassende Barrierefreiheit”?

Die Angebote müssen auf die verschiedenen Behindertengruppen zugeschnitten sein: zum Beispiel auf körper- und sehbehinderte Frauen, gehörlose Frauen oder Frauen mit Lernschwierigkeiten. Einige Maßnahmen sind gar nicht so schwer umsetzbar, z. B. die Theke an der Anmeldung so weit absenken, dass auch eine Rollstuhlfahrerin drüber schauen kann, Streifen an den Wänden oder auf dem Fußboden für die bessere Orientierung von sehbehinderten Frauen, Haltegriffe in Umkleide und Toilette zum Hochziehen.

AKF: Was bedeutet das im Einzelnen, was brauchen die Frauen darüber hinaus?

Es braucht ausreichend Platz in den Räumlichkeiten, damit sich Frauen mit Rollstuhl auch bewegen können. Das Mobiliar – Untersuchungsliegen und der gynäkologische Untersuchungsstuhl – muss unterfahrbar, höhenverstellbar und insbesondere der gynäkologische Untersuchungsstuhl muss individuell einstellbar sein. Assistenzpersonal von Frauen mit Behinderung müsste selbstverständlich akzeptiert sein. Bei der Terminvergabe für Frauen, die mit Assistenzpersonal kommen, ist die Einhaltung von Terminen besonders wichtig. Hier sollte es möglichst nicht zu langen Wartezeiten kommen, da die Assistenzperson in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung steht. Allerdings gebietet der respektvolle Umgang mit Frauen, die in Begleitung von Assistenz kommen, dass die Ärzt*in nicht über die Patientin hinweg mit der Assistenz spricht. Das Ärzt*innen-Patientinnen-Gespräch sollte auf Augenhöhe und verständlich sein. Auch wenn Frauen mit Gebärdendolmetscher*innen kommen, ist die Gesprächspartnerin die Patientin selbst. Für Frauen mit kognitiver Beeinträchtigung ist es nötig, in leichter Sprache kommunizieren zu können. Die Praxis sollte generell auch Orientierungspunkte für blinde und hochgradig sehbehinderte Frauen haben. Wünschenswert wäre auch, eine Regelung für das Mitbringen eines Blindenführhundes mitzudenken. Schriftliches Informationsmaterial und Patientinneninformationen müssten in Versionen in leichter Sprache – und für blinde Frauen barrierefrei (z. B. mit akustischen Angeboten oder in Brailleschrift) – verfügbar sein. Das sollte bei der Entwicklung von evidenzbasierten Informationsangeboten grundsätzlich schon mitgedacht werden. Ganz generell erfordert die Versorgung von Frauen mit Behinderung einen höheren Organisationsgrad. Es muss einfach mehr Zeit eingeplant werden. Dies müsste auch in der Ablaufplanung der Praxen verstärkt berücksichtigt werden.

AKF: Da kommen ja ordentlich Kosten auf behandelnde Ärzt*innen zu?

Frauen mit Behinderungen haben im Vergleich zu Frauen ohne Beeinträchtigung den gleichen Anspruch auf Zugang zu medizinischer Versorgung. Zum einen erfordert die Behandlung von Frauen mit Behinderung von vornherein mehr Zeit. Hier könnte die Politik mit den übrigen Akteur*innen im Gesundheitswesen einen spezifischen Abrechnungsschlüssel erarbeiten, der wie bei anderen Diagnosen, zum Beispiel bei Diabetes oder anderen Erkrankungen im Disease-Management-Programm, angewendet werden könnte. Wenn medizinische Einrichtungen grundsätzlich Inklusion als Maßstab zugrunde legen. Das erhöhte Investitionsvolumen für höhere Baukosten, Umbauarbeiten und Praxisausstattung könnte über die bisherigen Möglichkeiten hinaus staatlich gefördert werden. Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sieht im Arbeitsentwurf auch entsprechende Fördermöglichkeiten für den Abbau von Barrieren in Praxen vor.

AKF: Was sind denn die bisherigen Möglichkeiten? Wo siehst Du Veränderungsbedarf?

Nicht nur ich sehe Veränderungsbedarf. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat 2016 festgestellt, dass Verbesserungen bei der Förderung notwendig sind. Sie fordert neben zinsgünstigen Finanzierungen auch finanzielle Unterstützung. Aus meiner Sicht geht es beim Zugang zu gleichwertiger medizinischer Versorgung für alle um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, von der wir ohne hinreichende Förderung wahrscheinlich auch zukünftig nur träumen können. Die Verantwortlichen sollten sich, unter Einbeziehung von Expertinnen in eigener Sache, den Selbstvertretungsorganisationen behinderter Frauen, entsprechend Gedanken über tragfähige Umsetzungsmöglichkeiten machen, so wie dies beispielsweise im Städtebau, bei öffentlichen Verkehrsmitteln etc. bereits geschehen ist. Eine Norm für standardisiertes barrierefreies Mobiliar in der Arztpraxis wäre hilfreich. Damit wären u. a. Hersteller von gynäkologischen Untersuchungsstühlen verpflichtet, ihre Geräte nach den Kriterien der Barrierefreiheit herzustellen. Barrierefreies Mobiliar für Arztpraxen sollte seriell produziert werden, damit werden sie kostengünstiger und Sonderanfertigungen sind überflüssig. Außerdem fehlt eine Anlaufstelle für Beschwerden für Frauen mit Behinderung. Betroffene selbst sollten sich zu Wort melden können, wenn sie keine angemessene Versorgung erhalten oder finden können.

AKF: Was muss Ärzt*innen darüber hinaus angeboten werden?

Mehr Fortbildungen zur Sensibilisierung für den Personenkreis der Frauen mit Behinderung wäre notwendig. Besonders bei Praxisgründungsseminaren sollten Frauen mit Behinderung einfach immer mitgedacht werden. Entsprechende Fortbildungen müssten standardmäßig von den Ärztekammern angeboten werden, damit Frauen mit Behinderung sich auf fachkompetenten Umgang in medizinischen Einrichtungen verlassen können. Außerdem gehört meines Erachtens das Thema „Sensibilisierung für Verschiedenheit” ganz generell – nicht nur für Frauen mit Behinderung – ins Medizinstudium und die Facharztausbildung. Selbstverständlich sollte auch das Praxispersonal entsprechend geschult sein.

AKF: Was für eine Organisationsform zur Versorgung von behinderten Frauen hältst Du für sinnvoll? Niedergelassene Praxen oder spezialisierte Zentren?

Es mag sein, dass bestimmte Gruppen von schwerst-mehrfach-behinderten Frauen einen speziellen Bedarf haben, den eine niedergelassene Praxis, bei aller Bereitschaft, nicht wird leisten können. Dafür sind die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene Behinderte (MZEB), die nach § 119 c SGB V auf Länderebene möglich sind, sicherlich eine gute Möglichkeit. Solche „Sonderwelten“ sollten allerdings lediglich die Ausnahme bleiben. Denn jede Frau, auch diejenige mit Behinderung, hat nach § 76 SGB V das Recht auf freie Arztwahl. Entsprechend sollten behinderte Frauen, wie alle anderen auch, zwischen niedergelassenen Praxen und spezialisierten Zentren individuell nach eigenen Präferenzen und je nach Behandlungsgrund wählen können.

AKF: Das erfordert ja alles ein großes Engagement. Wie können Ärzt*innen deiner Meinung nach motiviert werden?

Die Versorgung von Frauen mit Behinderung ist eine Selbstverständlichkeit, bei der ich voraussetze, dass sie grundsätzlich mit Engagement und ohne Unterschiede bei Frauen mit und ohne Behinderung erfolgt. Es ist Aufgabe unseres Gesundheitssystems, die bestmöglichen Voraussetzungen dafür zu garantieren. Behandlungssituationen mit erhöhtem Behandlungs- und Beratungsaufwand müssen angemessen vergütet werden, unabhängig davon, ob eine Frau behindert ist oder nicht. Bei der Einrichtung von barrierefreien medizinischen Behandlungseinrichtungen, die schließlich allen zu Gute kommen, weil jede plötzlich behindert sein kann oder auch nur älter wird, können geeignete Fördermodelle helfen.

AKF: Wie hoch ist der Anteil der Einrichtungen in Deutschland, die eine angemessene gynäkologische Versorgung für Frauen mit Behinderungen leisten?

Das wird meines Wissens bisher nicht gesondert erfasst. Derzeit werden deutschlandweit fünf Modellprojekte, die ganz unterschiedlich organisiert sind, evaluiert. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat die Universität Bielefeld mit einer Studie beauftragt, diese Praxismodelle auf ihre Tauglichkeit – was läuft gut, was muss verändert werden – zu untersuchen. Es gibt deutschlandweit natürlich viel mehr Praxen, die zumindest die Voraussetzung der räumlichen Barrierefreiheit erfüllen, aber wir wissen zumindest in Berlin, dass auch etliche der Praxisinhaber*innen mit barrierefreien Räumlichkeiten nicht mehr in der Mobidat-Datenbank für barrierefreie Einrichtungen verzeichnet sein wollen, weil sie wirtschaftliche Nachteile befürchten.

AKF: Was müsste geschehen, um die Versorgungslücke zu schließen?

Aus meiner Sicht wäre ein Paradigmenwechsel dringend nötig. Es müssten mehr Daten zur Versorgungssituation von Frauen mit Behinderung erhoben werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben einen Sicherstellungsauftrag und müssen dafür zu sorgen, dass das Gesundheitssystem allen Zielgruppen gerecht wird. Gleichzeitig sind sie als niedergelassene Ärzt*innen auch Unternehmer*innen. Das ist ein Dilemma. Ich wünsche mir jedenfalls, dass Patientinnen, Behinderung hin oder her, sich in Arztpraxen und Behandlungseinrichtungen nicht als Kostenfaktor fühlen müssen und medizinische Behandlung nicht durchökonomisierter Wirtschaftsfaktor ist. Ich sehe alle Akteur*innen in der Pflicht, künftig auch behinderte Frauen als Patientin in den Mittelpunkt zu stellen und entsprechend hier nach neuen Lösungen zu suchen.

AKF: Und wie können Frauen mit Behinderungen motiviert werden, gynäkologische Untersuchungen in einem angemessenen Rahmen zu nutzen?

Sie müssen sich willkommen fühlen können. Ihre Zweifel und Vorbehalte sollten ernst genommen werden.

AKF: Wer kann/muss für eine verbesserte gynäkologische Versorgung “ins Boot geholt werden”?

Der politische Wille muss da sein, BMG, Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und die Kassen müssen mit den Interessenvertretungen von Frauen mit Behinderung und Frauengesundheitsorganisationen kooperieren.

AKF: Was kann der AKF dazu beitragen? Was hältst Du von einem Modellprojekt des AKF?

Der AKF kann für die Herstellung von Öffentlichkeit sorgen. Darüber hinaus kann der AKF sein gutes Standing nutzen, um Kontakte zu Ärzt*innen und den Akteur*innen im Gesundheitswesen herzustellen, die sich hier engagieren wollen. Einen weiteren Modellversuch halte ich aktuell nicht für günstig. Ich plädiere eher dafür, Kontakt zu Frau Professorin Hornberg von der Universität Bielefeld und ihrem Forschungsteam aufzunehmen, um den Prozess des aktuellen Projekts, die Evaluation der bestehenden Modellprojekte, zu begleiten. Sinnvoll und nützlich wäre auch, im Netz mal eine Praxis darzustellen, die barrierefrei ist.

Das Interview führten Karin Bergdoll und Gudrun Kemper, AKF e. V.

Bildnachweis: Margit Glasow

Download

Das AKF-Interview Nr. 14: Zur gynäkologischen Versorgung von Frauen mit Behinderung (pdf)

Mehr zum Thema

Die UN-Behindertenrechtskonvention (pdf): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(amtliche gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein)

Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (pdf) vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, ratifiziert am 21. Dezember 2008

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