Pille zur Verhütung: Verordnungsanteil risikoreicher Präparate nach wie vor hoch (Kommentar von Ingrid Mühlhauser)

Pille zur Verhütung: Verordnungsanteil risikoreicher Präparate nach wie vor hoch (Kommentar von Ingrid Mühlhauser)

Anlässlich der Veröffentlichung einer Pressemitteilung der AOK unter dem Titel “Pille zur Verhütung: Verordnungsanteil risikoreicher Präparate nach wie vor hoch” hat Ingrid Mühlhauser, Vorsitzende des Arbeitskreis Frauengesundheit einen Kommentar verfasst:

Erhöhtes Thromboserisiko für Pillen der sog. 3. und 4. Generation

Schon 2001 wurde im British Medical Journal auf das im Vergleich zu Levonorgestrel erhöhte Thromboserisiko von Gestagenkomponenten (Desogestrel, Gestoden) in Pillenpräparaten der sog. 3. Generation aufmerksam gemacht. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat daher bereits 2001 ein Position Statement veröffentlicht und auf das erhöhte Thromboserisiko mit Pillen der 3. Generation hingewiesen (1). Es folgten weitere prominente Publikationen, die schließlich zur Neubewertung der Risiken von kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) durch die EMA im Jahr 2013 (2,3) und den beiden Rote-Hand-Briefen des BfArM zu Cyproteronacetat im Jahr 2013 (4) und zu den kombinierten Kontrazeptiva im Januar 2014 in Deutschland führte (5-8). Die Ergebnisse waren eindeutig: Es gibt keinen Unterschied im Nutzen/der Wirksamkeit (Schwangerschaftsverhütung) der KOK Pillenpräparate, sehr wohl jedoch im Thromboserisiko. Qualitativ hochwertige systematische Übersichtsarbeiten zum erhöhten Thromboserisiko der Pillen sog. 3. und 4. Generation wurden bereits 2013 im British Medical Journal publiziert (9) oder Anfang 2014 als Cochrane Review (10).

Zu den Warnmeldungen der Rote-Hand-Briefe des BfArM (4-8) gab es entsprechende Bekanntmachungen durch die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (11) und Bekanntmachungen der Bundesärztekammer, beispielsweise über Veröffentlichungen im Deutschen Ärzteblatt (12). Diese Dokumente mit Warnhinweisen zum Thromboserisiko kombinierter Kontrazeptiva der sog. 3. und 4. Generation sind allen Ärzt*innen zugesendet worden.

Pharmaunabhängige deutschsprachige Publikationsorgane wie das arznei-telegramm haben ebenfalls bereits 2013 (und auch schon davor) ausführlich auf das erhöhte Thromboserisiko kombinierter Kontrazeptiva der sog. 3. und 4. Generation verwiesen (13).

Bei der Neubewertung des Thromboserisikos der kombinierten hormonalen Kontrazeptiva (KHK) durch die EMA in den Jahren 2013 und 2014 stand auch die Entscheidung an, ob betroffene Präparate der 3. und 4. Generation ganz vom Markt genommen werden sollten. Letztlich gab es Minderheitenvoten, sodass schließlich die Präparate auf dem Markt blieben, jedoch umfangreiche Warnhinweise und Regelungen zur Erhebung der Anamnese und Aufklärung der Anwenderinnen erlassen wurden (7,8). Siehe dazu die oben erwähnten Dokumente der EMA, die Rote-Hand-Briefe des BfArM (4-6) und die begleitenden Veröffentlichungen durch die Bundesärztekammer und andere Institutionen (11,12,14). In Frankreich wurden die Pillen der 3. und 4. Generation seither nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt. Folglich gab es eine deutliche Abnahme an Verordnungen dieser Präparate und eine assoziierte Reduzierung von thrombotischen Ereignissen in Frankreich (15).

Zum AOK Bericht und Dienogest

Das BfArM hat im Dezember 2018 einen Rote-Hand-Brief zu Dienogest-haltigen kombinierten Kontrazeptiva an die Ärzteschaft verschickt (14). Dienogest-KHK wurden über Jahre verordnet, obwohl Studien fehlten, die eine Abschätzung des Thromboserisikos erlaubt hätten. Das Fehlen von Evidenz wurde offensichtlich erfolgreich als Fehlen von erhöhtem Thromboserisiko an die verordnenden Ärzt*innen beworben.
Nach dem AOK Bericht ist der Verordnungsanteil von KOK mit den risikoreicheren Gestagenen Chlormadinon, Drospirenon, Desogestrel und Gestoden in den letzten Jahren zwar gesunken, aber nach wie vor erhalten mehr als die Hälfte der Frauen, die die Pille auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet bekommen, die risikoreicheren Präparate der neueren Generation. Selbst in der Altersgruppe der bis 20 Jahre würden noch 52 Prozent die risikoreicheren Wirkstoffe erhalten. Besonders problematisch wäre nach der AOK Pressemitteilung vom 28. Juli 2020 das Verordnungsverhalten zu Dienogest-KOK: „Problematisch ist allerdings die Entwicklung beim Wirkstoff Dienogest, dessen Anteil an den Verordnungen im Zehn-Jahres-Zeitraum von 19 auf 37 Prozent stieg – und das, obwohl das Risiko dieses Wirkstoffes für das Auftreten venöser Thromboembolien lange unklar war und das BfArM daher von der Verordnung bei Risiko-Patientinnen abgeraten hat“.

Aufklärungspflichten

Mit dem Patientenrechtegesetz 2013 wurden die Aufklärungspflichten der behandelnden Ärzt*innen konkretisiert (16).

  • 630e Aufklärungspflichten

(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.

(2) Die Aufklärung muss

  1. mündlich durch den Behandelnden oder durch eine Person erfolgen, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt; ergänzend kann auch auf Unterlagen Bezuggenommen werden, die der Patient in Textform erhält,
  2. so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann,
  3. für den Patienten verständlich sein. Dem Patienten sind Abschriften von Unterlagen, die er im Zusammenhang mit der Aufklärung oder Einwilligung unterzeichnet hat, auszuhändigen.

  • 630e Aufklärungspflichten Absatz (1) trifft für die Verordnung von hormonalen Kontrazeptiva uneingeschränkt zu, da es mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zur Schwangerschaftsverhütung mit wesentlich unterschiedlichen Belastungen und Risiken gibt.

Die Aufklärungspflicht wurde zudem auch in den Rote-Hand-Briefen des BfArM und den dazugehörigen Dokumenten betont. Im Rote-Hand-Brief vom 30. Januar 2014 heißt es in der Zusammenfassung (5):

„… der Fokus liegt nun auf der Bedeutung der individuellen Risikofaktoren der einzelnen Frau/Anwenderin sowie der Notwendigkeit, Risikofaktoren regelmäßig neu zu beurteilen. Zudem soll das Bewusstsein für die Anzeichen und Symptome einer VTE bzw. ATE geschärft werden. Diese Anzeichen und Symptome sind den Anwenderinnen, denen KHK (kombinierte hormonelle Kontrazeptiva) verordnet werden, zu beschreiben.“

„… Es wurden zusätzliche Vorlagen erstellt (siehe Anlagen), die die Beratung unterstützen sollen, u.a. eine Checkliste, die der verordnende Arzt mit der Frau/Anwenderin durchgehen sollte, um sicherzustellen, dass KHK für die Frau geeignet sind. Außerdem steht eine Anwenderinnenkarte/Patientinnenkarte zur Verfügung, auf der die wichtigsten Anzeichen und Symptome einer VTE bzw. ATE aufgeführt sind, auf die die Frauen achten sollten. Diese Karte sollte jeder Anwenderin von KHK ausgehändigt werden.“

Aus dem Rote-Hand-Brief der Firma Jenapharm GmbH & Co. KG an die Ärzte und Ärztinnen, Dezember 2018 (14):

„…. Arzneimittel, die Levonorgestrel, Norgestimat oder Norethisteron enthalten, sind mit dem geringsten Risiko für eine VTE verbunden. Andere Arzneimittel, die DNG/EE enthalten (wie z.B. Valette/Maxim), können ein bis zu 1,6‐fach so hohes Risiko aufweisen. Die Entscheidung, ein Arzneimittel anzuwenden, das nicht zu denen mit dem geringsten VTE Risiko gehört, sollte nur nach einem Gespräch mit der Frau getroffen werden, bei dem sicherzustellen ist, dass sie sich des erhöhten Risikos für eine VTE unter Anwendung von KHK, die Dienogest/Ethinylestradiol enthalten bewusst ist und versteht, wie ihre vorliegenden individuellen Risikofaktoren dieses Risiko beeinflussen, und dass ihr Risiko für VTE in ihrem allerersten Anwendungsjahr am höchsten ist…“

Nach den Kriterien für eine evidenzbasierte Information als Grundlage für informierte Entscheidungen muss neben den Risiken auch über die Unsicherheit der Evidenz bzw. den fehlenden wissenschaftlichen Nachweis zu postulierten Vorteilen informiert werden. Im Falle von Dienogest wäre dies Aufklärung über die fehlende Evidenz für eine Überlegenheit in Bezug auf Akne im Vergleich zu z.B. Levonorgestrel-haltigen KHK.

Literatur

  1. The European Agency for the Evaluation of Medicinal Products. Position Statement vom 28, September 2001: CPMP concludes its assessment of ‘third generation’ combined oral contraceptives and the riskof venous thromboembolism; London 2001. https://www.ema.europa.eu/en/documents/position/cpmp-concludes-its-assessment-third-generation-combined-oral-contraceptives-risk-venous_en.pdf
  2. European Medinces Agency (EMA). Cyproterone- and ethinylestradiol-containing medicines. 05.08.2013. https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/referrals/cyproterone-ethinylestradiol-containing-medicines
  3. European Medinces Agency (EMA) Assessment report for combined hormonal contraceptives containing medicinal products: https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/referrals/combined-hormonal-contraceptives#all-documents-section, Januar 2014.
  4. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Rote-Hand-Brief vom 12. Juni 2013 zu: Cyproteronacetat 2 mg/Ethinylestradiol 35 g1: Verschärfung der Warnhinweise, neue Kontraindikationen sowie aktualisierte Indikation. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/EN/Drugs/vigilance/InformationRisks/RI_rhb/2013/rhb-diane35.pdf?__blob=publicationFile&v=2
  5. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Rote-Hand-Brief zu kombinierten hormonalen Kontrazeptiva, einschließlich Informationsmaterialien: Risiko von venösen Thromboembolien. Datum 03.02.2014. Wirkstoff Gestagen-Komponente: Chlormadinon, Desogestrel, Dienogest, Drospirenon, Etonogestrel, Gestoden, Nomegestrol, Norelgestromin oder Norgestimat; https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2014/rhb-khk.html
  6. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Kombinierte hormonale Kontrazeptiva: Unterschiede hinsichtlich des Thromboembolie-Risikos unterschiedlicher Präparate; Bedeutung von individuellen Risikofaktoren und Beachtung von Anzeichen und Symptomen. 30.01.2014. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2014/rhb-khk.pdf?__blob=publicationFile&v=15
  7. Checkliste Arzt. Checkliste für die Verschreibung kombinierter hormonaler Kontrazeptiva. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/EducationMaterial/Anlagen/kombinierte-hormonelle-kontrazeptiva-aerzte.pdf;jsessionid=F5598BB6101CA7EE9C2A00A7369C737B.1_cid344?__blob=publicationFile&v=8
  8. Patientenkarte. Wichtige Informationen über kombinierte hormonale Kontrazeptiva („Pillen” und andere Verhütungsmittel mit Östrogenen und Gestagenen) und das Risiko für Blutgerinnsel. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/EducationMaterial/Anlagen/kombinierte-hormonelle-kontrazeptiva-patienten.pdf;jsessionid=F5598BB6101CA7EE9C2A00A7369C737B.1_cid344?__blob=publicationFile&v=7
  9. Stegeman BH et al. Different Combined Oral Contraceptives and the Risk of Venous Thrombosis: Systematic Review and Network Meta-Analysis. BMJ 2013 Sep 12;347:f5298. doi: 10.1136/bmj.f5298; https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24030561/
  10. de Bastos M et al. Combined Oral Contraceptives: Venous Thrombosis. Cochrane Database Syst Rev. 2014 Mar 3;(3):CD010813. DOI: 10.1002/14651858.CD010813.pub2; https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24590565/
  11. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Kontrazeptiva. 20.01.2014. Rote-Hand-Brief zu kombinierten hormonalen Kontrazeptiva. https://www.akdae.de/suche/index.html?q=Kontrazeptiva&ps=5
  12. Bundesärztekammer. Mitteilungen. Bei der Verschreibung von kombinierten hormonalen Kontrazeptiva sollte das Risiko für thromboembolische Ereignisse berücksichtigt werden, Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 37 | 12. September 2014. A1533-A1534; https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=161547
  13. arznei-telegramm. EMA: Thromboembolie-Häufigkeit unter Kontrazeptiva neu bewertet. a-t 2013; 44: 103-4; https://www.arznei-telegramm.de/html/2013_11/1311103_03.pdf
  14. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Rote-Hand-Brief zu dienogest- und ethinylestradiolhaltigen Kontrazeptiva: Risiko venöser Thromboembolien. 11. 12. 2018; https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2018/rhb-dienogest-ethinylestradiol.html
  15. arznei-telegramm. Thromboembolie: Kontrazeptiva der 3. Und 4. Generation seltener verordnet…. in Frankreich, leider nicht in Deutschland. a-t 2015; 46: 41-42; https://www.arznei-telegramm.de/html/2015_05/1505041_02.html
  16. Bundesärztekammer. Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013. https://www.bundesaerztekammer.de/recht/gesetze-und-verordnungen/patientenrechtegesetz/

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Anmerkungen zu risikoreichen Pillen: Erhöhtes Thromboserisiko für Pillen der sog. 3. und 4. Generation
von Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser (Stand 22. Dezember 2020)

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Pille zur Verhütung: Verordnungsanteil risikoreicher Präparate nach wie vor hoch
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