Zur Diskussion: Stellungnahme des Arbeitskreises Frauengesundheit e.V. zur Stuttgarter Erklärung der Aktion Transsexualität und Menschenrechte e.V.

Zur Diskussion: Stellungnahme des Arbeitskreises Frauengesundheit e.V. zur Stuttgarter Erklärung der Aktion Transsexualität und Menschenrechte e.V.

Die „Stuttgarter Erklärung – Alternative Behandlungsempfehlungen bei geschlechtlichen Normvariationen“ vom 28. Mai 2015 von Aktion Transsexualität und Menschenrechte e.V. (ATME e.V.) fordert eine medizinische und therapeutische Gesundheitsversorgung für transsexuelle und intersexuelle Menschen frei von Diskriminierung. Dies betrifft alle Menschen, deren standesamtlich eingetragenes Geschlecht vom selbst wahrgenommenen Geschlecht abweicht. Es werden verschiedene Forderungen formuliert, unter anderem eine würdevolle sowie respektvolle Beziehungsgestaltung zwischen Arzt/Ärztin bzw. Therapeut*in und Patient*in, wobei das die Ansprache in dem gewünschten Geschlecht einschließt. Gefordert wird eine Behandlung, insbesondere Psychotherapie, frei von Zwang. Ziel soll Minderung des Leids, nicht die Anpassung an Geschlechtsstereotypen oder gesellschaftliche Normen sein. Eine zeitnahe, ortsnahe flächendeckende und spezialisierte Hilfe wird für Menschen jeglichen Alters gefordert sowie evidenzbasierte Forschung zu den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Hinweise auf Richt- und Leitlinien werden als nicht dem Wohl der Betroffenen dienlich angesehen, wenn diese das Ziel haben, sie hinzuhalten oder Hilfe zu verweigern. Dazu werden auch Richtlinien von Krankenkassen gezählt (S. 21). Es wird die Abschaffung solcher Vorschriften gefordert. Die Entscheidung über die Notwendigkeit und Dauer von Behandlungen soll allein den Betroffenen und dem Therapeuten bzw. der Therapeutin des Vertrauens zustehen. Alle Kosten sollen von den Krankenkassen ohne Verzögerung übernommen werden (S. 22) (siehe http://die-erklaerung.de/).

Aktuell gilt Transsexualität als psychiatrische Diagnose. Im International Classification of Diseases 10 (ICD 10), das von der Weltgesundheitsbehörde (WHO) herausgegeben wird, ist sie im Kapitel zu Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen als Störung der Geschlechtsidentität gefasst und wie folgt definiert: „Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.“[1] Das ICD 11 wurde im Juni 2018 von der WHO vorgestellt und wird am 1. Januar 2022 in Kraft treten mit einer Übergangszeit von fünf Jahren. Im ICD 11 steht der Leidensdruck, der mit Transsexualität einhergehen kann als sog. Gender Inkongruenz im Fokus der Diagnose und sie erhält einen Platz in einem Kapitel außerhalb psychiatrischer Diagnosen, um Pathologisierung zu vermeiden. Zuweilen, aber nicht immer wünschen transidente Personen eine Anpassung ihres Körpers an das gewünschte Geschlecht, sei es durch Hormonbehandlungen oder Operationen. Sie sind zu unterscheiden von den Personen, deren biologisches Geschlecht nicht eindeutig ausgeprägt ist (divers) und von Personen, die sich als queer identifizieren.

Die damalige Vorsitzende Dr. Dagmar Hertle hat die Stuttgarter Erklärung im Namen des AKF ebenso unterzeichnet wie im Jahr 2017 die neue stellvertretende Vorsitzende Dr. Silke Schwarz.

Der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF) hat das Ziel, eine geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung zu sichern, die sich sowohl auf Sex (biologisches Geschlecht) als auch auf Gender (soziales Geschlecht) bezieht. Dies entspricht der Forderung nach geschlechtsspezifischer Forschung und Praxis. Es gilt daher, Menschen in ihrer Varianz und ihrer Selbstbestimmung zu vertreten, und dabei biologische, soziale, gesellschaftliche sowie psychologische Faktoren zu berücksichtigen. Je nach Kontext ist ihr soziales Geschlecht, ihr biologisches Geschlecht bei Geburt und ihr – ggf. operativ angepasstes – Geschlecht in alle Überlegungen zu Behandlung wie auch Forschung mit einzubeziehen.

Seit der Veröffentlichung der Stuttgarter Erklärung im Jahr 2015 gab es verschiedene Entwicklungen, die den AKF Vorstand veranlasst haben, sich mit dem Thema neuerlich zu befassen.

So sind zwischenzeitlich eine von Sexualwissenschaftler*innen verfasste S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) mit psychosozialem Schwerpunkt[2] und ein Review zur medizinisch klinischen Evidenz des US American College of Pediatricians[3] veröffentlicht worden. Auch der Deutsche Ethikrat hat kürzlich eine Veranstaltung hierzu durchgeführt und eine ad-hoc-Empfehlung veröffentlicht.[4] Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat sich im Jahr 2019 mit der Problematik befasst.[5]

In den Medien wird das Thema zunehmend präsentiert und diskutiert (z.B. SZ Magazin vom 20. Sept. 2019). Insgesamt wird statistisch eine Zunahme von transidenten Menschen über die letzten 50 Jahre hinweg festgestellt, wobei der Anteil von erwachsenen trans* Frauen (Mann zu Frau) höher ist als der von trans* Männern (Frau zu Mann).[6],[7] Bei Jugendlichen hingegen wird von einer umgekehrten Zahlenkorrelation berichtet. So zum Beispiel für das Jahr 2018/2019 in GB von 624 Jugendlichen mit der Veränderung von Mann zu Frau und 1740 Jugendlichen mit einer Transition von Frau zu Mann.[8]

Die Evidenzbasierung von geschlechtsanpassenden Eingriffen und Hormonbehandlungen einschließlich der Erhebung von Neben- und Langzeitwirkungen, insbesondere bei früh in Kindheit oder Jugend einsetzenden und lange währenden Behandlungen, sieht der AKF als höchst lückenhaft an. Studien verweisen darauf, dass die Persistenz der Transidentität vom Kinder- ins Jugendalter als eher niedrig zu beurteilen ist (12 bis 39 %[9]). Die Mehrheit dieser nicht genderkonformen Kinder entwickelt im Jugendalter eine homo- oder bisexuelle Orientierung.[10] 

Unsere Forderung nach Evidenzbasierung von Therapiemaßnahmen und Operationen mit unumkehrbaren körperlichen Folgen ist damit insbesondere für die Zielgruppe von transidenten Kindern und Jugendlichen hoch relevant. Der Wunsch eines Kindes oder Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie, im selbst empfundenen Geschlecht zu leben, entspricht seinem Recht nach freier Entfaltung der Persönlichkeit. Aufgrund der bislang vorliegenden unzureichenden Evidenzbasierung erfordert jedoch die Einleitung somatomedizinischer Maßnahmen bei Minderjährigen eine hohe fachliche und ethische Begründungslast und muss im Einzelfall äußerst kritisch im Hinblick auf die Langzeitfolgen abgewogen werden. Bei irreversiblen somatomedizinischen Eingriffen in die biologische Reifeentwicklung ist das Risiko abzuwägen, dass die Behandlungsentscheidung von den Betroffenen selbst später bereut werden könnte. Nicht-Behandlung aufgrund des Fortschreitens der zunehmend irreversiblen Vermännlichung bzw. Verweiblichung des Körpers stellt umgekehrt ein erhöhtes Risiko für lebenslang anhaltende Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit und psychosozialen Teilhabe dar, das besonders bei Jugendlichen mit sehr früh in der Kindheit einsetzender Geschlechterdysphorie zu beachten ist. Verantwortliche Entscheidungsprozesse sind gemeinsam zwischen Behandlungssuchenden, ihren Sorgeberechtigten und Behandelnden (shared decision making) zu entwickeln. Hierfür braucht es dringend eine entsprechende Evidenzbasierung der Therapiemöglichkeiten als Grundlage einer informierten Entscheidungsfindung. Die wissenschaftlichen Daten und die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, müssen in sogenannten Entscheidungshilfen aufbereitet und für die Nutzer*innen bereitgestellt werden. Entsprechende evidenzbasierte Informationsmaterialien fehlen derzeit. Aufgrund der dargestellten aktuellen Entwicklungen und Erkenntnislage, kann der AKF daher den Forderungen der Stuttgarter Erklärung, dass unabhängig vom Alter alle Maßnahmen und Eingriffe allein aufgrund des Wunsches der betroffenen Kinder und Jugendlichen ohne Verzögerung umzusetzen und durch Kassenleistungen bezahlt werden sollen, nicht mehr uneingeschränkt folgen. Hier scheint uns eine intensivierte, die Lebenskontexte kritisch abklärende Beratung, ggf. auch Therapie, erforderlich zu sein. Sowohl Jugendliche als auch Erwachsene sollten angeregt werden, vor unumkehrbaren Eingriffen eine zweite Meinung einzuholen. Ethische Fragen sind zu berücksichtigen. Dabei sollten die für das Lebensalter typischen Veränderungs- und Anpassungsdynamiken und psychiatrische Kontexte beachtet werden, um mögliche irreversible Schäden von Kindern und Jugendlichen abzuwenden.

Der Arbeitskreis Frauengesundheit hat in seiner 27-jährigen Geschichte stets eine kritische Haltung gegenüber voreiligen und stark körperlich eingreifenden medizinischen Maßnahmen eingenommen. Er hält den Grundsatz der Selbstbestimmung und der Achtung der Würde von Nutzer*innen des Gesundheitssystems für sehr wichtig und unterstützt daher die Forderungen insbesondere von erwachsenen trans*Personen, sich dem von ihnen gefühlten Geschlecht so weit anzugleichen, wie sie das für sich wünschen. Der AKF hält es für unabdingbar, jeder Person mit Wunsch nach körperlich eingreifenden medizinischen Maßnahmen eine informierte Entscheidung auf der Basis von größtmöglicher wissenschaftlicher Evidenz zu den verschiedenen Therapieoptionen zu ermöglichen. Bei fundierter Entscheidung nach gründlicher Beratung und ggf. Therapie hält der AKF die Bezahlung der Therapien im Rahmen der Kassenleistungen für wichtig.

Der AKF begrüßt eine Entstigmatisierung durch die Entscheidung der WHO, indem die neue Diagnose Gender-Inkongruenz aus dem Kapitel Psychische und Verhaltensstörungen des ICD heraus und in das neue Kapitel Bedingungen und Zustände bezogen auf die sexuelle Gesundheit („conditions related to sexual health“) eingefügt wurde.

Daneben fordert der Arbeitskreis Frauengesundheit die Vertiefung der Forschung zu Transidentität, einschließlich der gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen für eine gleichberechtigte Entwicklung und Akzeptanz von Mädchen und Frauen, ebenso wie andere wichtige Forschungsgebiete der Frauengesundheit. Diese sind z.B.: fehlende Bereitstellung von Entscheidungshilfen zu Fragen wie Verhütung, Schwangerschaft, Screenings, Brustkrebs, Hormone, Endometriose und operative Eingriffe, wie Entfernung der Gebärmutter oder der Eierstöcke, Menopause und medizinischen Behandlungen in Alten- und Pflegeheimen.

Der Arbeitskreis Frauengesundheit ist bestrebt, die soziale und gesundheitliche Versorgung in einer Weise zu verbessern, die allen Individuen ermöglicht, selbstbestimmt zu leben.

Der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V. (AKF) ist der größte unabhängige Zusammenschluss von Frauengesundheitsorganisationen im deutschsprachigen Raum. Der AKF organisiert Hebammen, Ärztinnen, Psychologinnen und Pädagoginnen, Heilpraktikerinnen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerinnen, Juristinnen, in den Pflegeberufen Tätige, in der Selbsthilfe Engagierte, Gesundheitswissenschaftlerinnen, außerdem Berufsverbände, Frauengesundheitszentren und Selbsthilfeverbände, Frauenberatungsstellen und weitere Organisationen und vertritt die Interessen von Frauen als Patientinnen, als Expertinnen und als Bürgerinnen. Der AKF ist ein gemeinnütziger Verein und besteht seit 1993.

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Stellungnahme zur Stuttgarter Erklärung der Aktion Transsexualität und Menschenrechte e.V. (pdf)

Referenzen

[1] https://www.icd-code.de/icd/code/F64.-.html

[2] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/138-001.html

[3]https://acpeds.org/position-statements/gender-dysphoria-in-children

[4] https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/trans-identitaet-bei-kindern-und-jugendlichen-therapeutische-kontroversen-ethische-fragen/   https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/deutscher-ethikrat-veroeffentlicht-ad-hoc-empfehlung-zu-trans-identitaet-bei-kindern-und-jugendlichen/

[5] https://www.bundestag.de/resource/blob/673948/6509a65c4e77569ee8411393f81d7566/WD-9-079-19-pdf-data.pdf

[6] Arcelus, J.,  Bouman, W. P., van den  Noortgate, W., et al.  (2015). Systematic review and meta-analysis of prevalence studies intranssexualism. European Psychiatry, 30(6), 807-815. doi:http://dx.doi.org/10.1016/j.eurpsy.2015.04.005

[7] Aitken, M., Steensma, T. D., Blanchard, R., et al. (2015). Evidence for an altered sex ratio in clinic-referred adolescents with gender dysphoria. J Sex Med, 12(3), 756-763. doi:10.11111/jsm.12817.

[8] Gender Identity Development Service. Number of referrals. Verfügbar unter: https://gids.nhs.uk/number-referrals.

[9] Turban, J., Ehrensaft, D. (2017). Research Review: Gender identity in youth: Treatment paradigms and controversies. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 59 (1). doi: 10.1111/jcpp.12833.

[10] Richter-Appelt, H., Nieder, T. O. (Hrsg.) (2014). Transgender-Gesundheitsversorgung. Gießen: Psychosozial Verlag.

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