Mammographie-Screening für Frauen ab 70? Eine neue Studie stiftet Verwirrung.
Versuch einer Klärung von Ingrid Mühlhauser
Nach einer aktuellen Studie ist die Brustkrebssterblichkeit von älteren Frauen in Deutschland höher als in den USA. Bezogen auf die Stadien der Brustkrebserkrankung ist die Überlebenswahrscheinlichkeit jedoch in Deutschland besser. In den USA gibt es sehr viel mehr Mammographie-Screening auch bei älteren Frauen. Muss nun auch in Deutschland das Mammographie-Screening für Frauen ab 70 angeboten werden?
Pressemeldung zu einer aktuellen Studie
Zahlreiche Medien haben eine Pressemeldung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) aufgegriffen. Wissenschaftler*innen des DKFZ haben zusammen mit der Gesellschaft der Epidemiologischen Krebsregister (GEKID) untersucht, wie sich Brustkrebsdiagnosen und Sterberaten während der letzten Jahrzehnte in den USA und Deutschland entwickelt haben. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Cancers veröffentlicht.
Bessere Ergebnisse für die USA im Vergleich zu Deutschland?
Die Autor*innen finden eine höhere Brustkrebs-Neuerkrankungsrate in den USA während des gesamten Zeitraums, jedoch eine niedrigere Sterblichkeit als in Deutschland. Die Unterschiede waren am größten bei Frauen im Alter von über 70 Jahre. Für diese wird eine um 19 Prozent höhere Neuerkrankungsrate, aber gleichzeitig eine um 45 Prozent geringere Brustkrebssterblichkeit berichtet als für deutschen Frauen derselben Altersgruppe.
In der Pressemeldung des DKFZ heißt es weiter: „In dieser Altersgruppe wurden auch große Unterschiede in der Verteilung der Tumorstadien zum Zeitpunkt der Diagnose beobachtet: In Deutschland erhielten 29 Prozent der Frauen die Brustkrebs-Diagnose in einem der beiden fortgeschrittenen Stadien III und IV, in den USA dagegen nur 15 Prozent. … Die altersstandardisierte relative Fünf-Jahres-Überlebensrate … lag zuletzt (Jahre 2013-15) bei den älteren deutschen Patientinnen mit 81,1% um 9 Prozentpunkte niedriger als bei den Amerikanerinnen. Dieser Unterschied ließ sich aber vollständig auf die günstigere Stadienverteilung in den USA zurückführen.“
In der wissenschaftlichen Publikation wird betont, dass ältere Frauen in Deutschland nicht schlechter versorgt sind als in den USA. Wie lassen sich also diese scheinbar widersprüchlichen Aussagen erklären?
Die Autor*innen selbst führen die beobachteten Unterschiede auf das sehr viel intensivere Mammographie-Screening in den USA zurück. In Deutschland wird qualitätsgesichertes Mammographie-Screening für Frauen vom 50. bis zum 69. Lebensjahr angeboten. In den USA hingegen werden auch ältere Frauen sehr viel häufiger gescreent als in Deutschland. Ein dem deutschen qualitätsgesicherten vergleichbares Screening-Programm gibt es in den USA nicht.
Damit kommt es in den USA zu sehr viel mehr Brustkrebsdiagnosen, vor allem von frühen Stadien. Die Autor*innen nutzen in ihrer Publikation eine Darstellung der Daten mittels Relativprozent in Bezug auf die Gesamtzahl der diagnostizierten Brustkrebsfälle. Auf diese Weise entsteht der Eindruck der niedrigeren Sterberaten. Dies ist jedoch höchst irreführend. Es könnte als statistisches Artefakt bezeichnet werden. Leider wurde das Missverständnis auch in die Medien transportiert, älteren Frauen ab 70 in Deutschland würde ein nutzbringendes Mammographie-Screening vorenthalten.
Irreführende und unvollständige Berichterstattung
Tatsächlich zeigt die Studie, dass in Deutschland die Überlebenschance für ältere Frauen mit Brustkrebs – bezogen auf das jeweilige Stadium bei Diagnose – sogar besser ist als in den USA. Zu finden sind diese Informationen in der Abbildung 4 und Tabelle 7S (im Supplement zur Publikation). Leider wird dieser Befund zwar im Ergebnisteil und in der Diskussion berichtet, nicht jedoch in der Zusammenfassung (abstract) der Studie. Obwohl in der Diskussion darauf verwiesen wird, dass in Deutschland das Mammographie-Screening Programm für Frauen ab 70 Jahre nicht angeboten wird, weil die Evidenz fehlt, dass es für ältere Frauen mehr nutzt als schadet, wird der Eindruck vermittelt, als gäbe es für ältere Frauen ein Versorgungsdefizit, weil das Screeningprogramm mit 69 Jahren endet.
Es ist bedauerlich, dass Daten zum Mammographie-Screening (und anderen Screeninguntersuchungen) weiterhin in einer verzerrten und irreführenden Weise kommuniziert werden. Sie können von interessierten Journalist*innen und Bürger*innen nicht verstanden werden.
Wir haben sowohl vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin als auch vom Arbeitskreis Frauengesundheit e.V. mehrfach gefordert, dass die Daten in wissenschaftlichen Publikationen für die Öffentlichkeit nicht als Relativprozent (Stadienverteilung bezogen auf die Gruppe der Personen mit einer Krebsdiagnose), sondern als Absolutprozent mit Angaben der tatsächlich Betroffenen in den jeweiligen Altersgruppen präsentiert werden – mit Angaben der Daten zur Gesamtsterblichkeit und Komorbiditäten – dies ist ganz besonders für die ältere Population von Bedeutung. Wir haben in der o.g. Veröffentlichung gezeigt, warum ältere Menschen nicht benachteiligt werden, wenn sie nicht zum Screening eingeladen werden bzw. welche Informationen für informierte Entscheidungen vorgelegt werden müssten. Leider fehlen diese weiterhin. Es ist Aufgabe der Wissenschaftler/Autoren diese Daten so zu präsentieren, dass sie verstanden werden können.
Die folgende Grafik und die Tabellen mit den Textteilen sind aus früheren Publikationen entnommen. Sie sollen helfen ein Verständnis für die Form der Datenpräsentation zu verbessern.
Odette Wegwarth vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat eine Grafik entwickelt, um den Trugschluss von 5-Jahres Überlebensraten bei Screening auf Krebs zu illustrieren:
Im Beispiel wird angenommen, dass ohne Screening bei einer bestimmten fiktiven Krebserkrankung die 5-Jahres Überlebensrate 68% beträgt.
Mit Screening werden in diesem Beispiel doppelt so viele Tumore diagnostiziert. Bei den zusätzlichen Diagnosen handelt es sich um nicht oder langsam progressive Tumore, sodass von diesen Menschen nach 5-Jahren alle noch am Leben sind. Die 5-Jahres Überlebensrate verbessert sich rein rechnerisch auf 84%. Dennoch versterben genauso viele Menschen an dem Tumor wie im Falle ohne Screening.
Das Beispiel zeigt eindrücklich die Irreführung durch 5-Jahres Überlebensraten.
Leider wird diese Art der Berichterstattung immer noch benutzt, beispielsweise auf der Website des Deutschen Mammographie-Screening Programms (Zugriff 4. Oktober 2020).
Auch in der aktuellen Publikation des DKFZ und der GEKID werden die Zahlen in dieser irreführenden Darstellungsform präsentiert. Das führt zwangsläufig zu Missverständnissen.
In früheren Publikationen (s. dazu auch: Werden ältere Menschen benachteiligt, wenn Screening-Programme altersbegrenzt sind?) haben wir versucht darzustellen, welche Informationen nötig sind, um beurteilen zu können, wie sinnvoll Screening auf Brustkrebs für ältere Frauen ist. Die folgenden Tabellen sollen die Bedeutung von Alter und Begleiterkrankungen zur Risikobewertung veranschaulichen.
Nutzen hängt vom Gesundheitszustand ab
Schon vor 15 Jahren haben australische Wissenschaftlerinnen darauf hingewiesen, dass der Nutzen von Mammographie-Screening erheblich vom Gesundheitszustand der Frauen abhängt (Barratt A et al. BMJ 2005). Tabelle 1 zeigt Ergebnisse dieser Studie, wie sie bei Adaptation für Frauen in Deutschland im Alter zwischen 70 und 80 Jahren aussehen könnten. Die Daten sind Schätzwerte, da entsprechende Erhebungen zum Zusammenhang von subjektiv bewertetem Gesundheitszustand und Sterberaten in dieser Form für Frauen in Deutschland nicht vorliegen. Entscheidend dabei ist jedoch das Verhältnis zwischen Gesamtmortalität und den Sterberaten an Brustkrebs.
Tabelle 1. Todesursachen von älteren Frauen in Abhängigkeit vom Gesundheitszustand (Schätzwerte)
Brustkrebs ist bei Frauen die häufigste einzelne Krebserkrankung. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel höher an einer anderen Krebserkrankung oder einer Herz-Kreislauferkrankung zu versterben. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind im Jahr 2017 in Deutschland von je 1000 verstorbenen Frauen etwa 220 an einer bösartigen Neubildung verstorben, davon 39 an Brustkrebs, etwa 400 verstarben an Krankheiten des Kreislaufsystems.
Lebenserwartung ist relevant
Kürzlich hat eine US-amerikanische Gruppe von Wissenschaftlerinnen weitere Analysen zum Einfluss von Alter und Begleiterkrankungen auf den möglichen Nutzen von Mammographie-Screening publiziert (Demb J et al. JNCI 2020).
Ausgewertet wurden Krankenkassendaten für einen Zeitraum von 10 Jahren von 222.088 Frauen, die im Alter zwischen 66 und 94 Jahren mindestens eine Screening-Mammographie erhalten hatten. Der Charlson Comorbidity Index (CCI, von 0 bis ≥2) wurde zur Bewertung des Mortalitätsrisikos durch Begleiterkrankungen genutzt.
„Statistischer Test zur Abschätzung der Morbidität und Mortalität von Patienten anhand 19 prognostisch relevanter Nebenerkrankungen wie Herzinfarkt, Lebererkrankung oder Demenz. Die Haupterkrankung des Patienten (z. B. ein Karzinom) fließt in die Berechnung nicht ein. Der Index hilft u. a. bei Therapieentscheidungen in der Onkologie.“
Tabelle 2 zeigt eine vereinfachte Zusammenfassung der entsprechenden Table 4 aus der Publikation von Demb J et al.:
Tabelle 2. Invasiver Brustkrebs und Sterberaten von 222.088 älteren Frauen in Abhängigkeit von Alter und Komorbidität
Tabelle 2 zeigt, dass die Häufigkeit von invasivem Brustkrebs in der Tendenz mit dem Alter abnimmt, jedoch kaum durch Komorbidität beeinflusst wird. Die Gesamtsterblichkeit beträgt in der jüngeren Altersgruppe zwischen 10% und 40% während der 10 Jahre Beobachtungszeit, hingegen sind es in der Altersgruppe ab 85 Jahre zwischen 60% und 85%. Tod am erstmals diagnostizierten Brustkrebs ist dabei sehr selten, weniger als 0,2% bis 0,4% der Frauen versterben in einem Zeitraum von 10 Jahren daran. Deutlich ist die starke Abhängigkeit der Gesamtmortalität vom Alter und der Komorbidität.
Die Wahrscheinlichkeit für jede einzelne bösartige Neoplasie ist vergleichsweise gering, selbst wenn es sich um Brustkrebs als dem häufigsten Krebsleiden von Frauen handelt. Ähnliche Relationen zwischen einer spezifischen Krebstodesursache und der Gesamtsterblichkeit finden sich auch für alle anderen einzelnen, noch selteneren Krebsleiden, wie Prostatakrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs, Hautkrebs oder Gebärmutterhalskrebs.
Bei älteren Menschen wird besonders deutlich, wie wichtig es ist, eine begrenzte Lebenserwartung bei medizinischen Entscheidungen zu berücksichtigen.
Informiertes Entscheiden handlungsleitend
Auch für individuelle Entscheidungen zum Screening bei älteren Menschen muss mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit der Nutzen den möglichen Schaden überwiegen. Evidenzbasierte Informationen zur vergleichenden Beurteilung von Krankheits- und Sterberisiken sowie Nutzen und Schaden von Prävention und Behandlungsmaßnahmen wären als Entscheidungsgrundlage nötig. Entscheidungshilfen zum Screening auf Brustkrebs, Darmkrebs und Gebärmutterhalskrebs werden im Rahmen der organisierten Früherkennungsprogramme auf der Website des Gemeinsamen Bundesausschusses (www.g-ba.de/service/versicherteninformationen/) oder über das IQWiG (www.gesundheitsinformation.de) zur Verfügung gestellt. Die Broschüren sind evidenzbasiert in Bezug auf Inhalte und Präsentation der Informationen. Sie beschränken sich jedoch auf die jüngeren Zielgruppen des organisierten Screenings. Auch sind vergleichende Angaben zur Wahrscheinlichkeit für andere konkurrierende Krebserkrankungen, Komorbidität oder konkurrierende Todesursachen nicht Inhalt der offiziellen Entscheidungshilfen.
Fazit: Wenn ältere Menschen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen wünschen, so müssten die Aufklärungsgespräche über Nutzen und Schaden grundsätzlich die restliche Lebenserwartung sowie die individuelle Komorbidität berücksichtigen. Nur auf diese Weise ist eine realistische Einschätzung der möglichen Vor- und Nachteile für das persönliche Leben möglich.
Wenn darüber beraten und entschieden werden soll, ob in Deutschland künftig Frauen ab 70 ein Mammographie-Screening angeboten werden sollte, dann müssen die wissenschaftlichen Daten zu Nutzen und Schaden vollständig und verständlich verfügbar gemacht werden. Nur dann habe die Entscheidungsträger*innen die Möglichkeit zu verstehen, worüber sie entscheiden. Publikationen wie die aktuelle aus dem DKFZ und GEKID sind nicht geeignet das Verständnis von wissenschaftlichen Daten zu erleichtern. 5-Jahresüberlebensraten bei Screening auf Krebs sind irreführend.
Als größter Zusammenschluss von Frauengesundheitsorganisationen im deutschsprachigen Raum wünschen wir uns Verbesserungen bei der Kommunikation von Forschungsergebnissen aus der Wissenschaft, damit diese verstanden werden können, anstatt Verwirrung zu stiften.