Positionspapier: Von Vielem zu viel, von Wichtigem zu wenig – Versorgungsprobleme während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und die Folgen für die Frauengesundheit in Deutschland

Positionspapier: Von Vielem zu viel, von Wichtigem zu wenig – Versorgungsprobleme während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und die Folgen für die Frauengesundheit in Deutschland

Die 2015 gegründete Fachgruppe Hebammen im AKF beschäftigt sich mit den Folgen der derzeitigen geburtshilflichen Versorgung für die Gesundheit von Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in Deutschland. Soeben ist das erste Positionspapier fertig gestellt worden. Es soll dazu beitragen, Entscheidungsträger in Politik, Gesundheitssystem und Gesellschaft auf die Notwendigkeit grundsätzlicher Neuerungen aufmerksam zu machen.

Von Vielem zu viel, von Wichtigem zu wenig – Versorgungsprobleme während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und die Folgen für die Frauengesundheit in Deutschland

Positionspapier der Fachgruppe Hebammen im Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.

Frauen brauchen in der Zeit von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett den Schutz und die Fürsorge unserer Gesellschaft. Dabei sollte die gesundheitliche Versorgung von Frauen neben der körperlichen und medizinischen Betreuung auch psychosoziale und emotionale Bedürfnisse berücksichtigen. Eine individuelle Beratung und Begleitung unterstützt Frauen dabei, informierte Entscheidungen nach ihren Vorstellungen zu treffen und eröffnet ihnen die Möglichkeit, aktiv an der Förderung und Erhaltung ihrer Gesundheit mitzuwirken. Das ist besonders dann wichtig, wenn eine Frau Mutter wird, denn eine Schwangerschaft stellt eine physiologische Lebens- und Entwicklungsphase dar, die grundlegende Neuorientierungen mit sich bringt. Positive Erfahrungen und eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs zur Mutterschaft stärken Frauen für spätere Herausforderungen – Sorgen, Stress und Ängste beeinträchtigen den Prozess und können langwierige gesundheitliche Risiken darstellen. Im Übergang zur Mutterschaft werden daher entscheidende Weichen für die zukünftige Gesundheit von Mutter und Kind gestellt.

Die derzeitige Versorgung von Schwangeren und Gebärenden fokussiert vorrangig eine medizinisch-technische Überwachung sowie einen übermäßigen Einsatz klinischer Tests und medikalisiert damit die ganze Schwangerschaft. Zudem werden hierüber unnötige wichtige Ressourcen finanzieller und personeller Art verbraucht [1]. Psychosoziale und emotionale Bedürfnisse der Schwangeren werden nicht ausreichend wahrgenommen, Verunsicherungen durch die Untersuchungsergebnisse nicht aufgefangen [2]. Bei der Geburt sind kontinuierlicher Beistand, Vertrauen und Sicherheit wesentliche Faktoren, die die Frau darin unterstützen, die Wehen zu bewältigen und aus eigener Kraft und selbstbestimmt ihr Kind zu gebären [3]. Frauen in Deutschland beklagen, dass Personalknappheit und Technikorientierung in der klinischen Geburtshilfe der wichtigen Stärkung physiologischer Vorgänge rund um die Geburt viel zu oft entgegenstehen. Durch die Schließung geburtshilflicher Abteilungen müssen Frauen weite Fahrtwege in Kauf nehmen. Ihnen fehlt eine persönliche Betreuung in den Tagen und Stunden vor der Geburt. Derzeit können dies weder die Geburtsklinik noch freiberufliche Hebammen oder niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe gewährleisten [4]. Zudem begünstigen klinikinterne Prozesse und Strukturen des Gesundheitssystems Interventionen bis hin zu Kaiserschnitten, welche kurz- und langfristige Probleme nach sich ziehen können [4]. Nach einem Kaiserschnitt haben Frauen ein höheres Risiko für Krankheitsfolgen und Komplikationen in der folgenden Schwangerschaft und Geburt [5], ihre Kinder haben ein höheres Risiko für Atemprobleme, Infektionen und Allergien [6]. Ein negatives Geburtserleben oder eine als traumatisch erlebte Geburt führt zu einer langfristig schlechteren gesundheitsbezogenen Lebensqualität [7]. Unnötige Interventionen verletzen das Recht auf Selbstbestimmung – dies kommt einer fortgesetzten Verletzung von Frauenrechten gleich!

Frauen, die unter Ängsten oder Depressionen leiden oder chronische körperliche Erkrankungen haben, Frauen, die Opfer von Genitalverstümmelung wurden, behinderte oder geflüchtete Frauen oder Frauen mit kognitiven Einschränkungen oder aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen haben besondere Bedürfnisse, die bislang nicht genug beachtet werden.

Der Zeit nach der Geburt, dem Wochenbett, wird heutzutage viel zu wenig Bedeutung beigemessen und der Wöchnerin zu wenig Rückzugsmöglichkeiten eingeräumt [8]. Studienergebnisse weisen darauf hin, dass der überwiegende Anteil der Mütter im Frühwochenbett von physischen Beschwerden betroffen ist, obwohl sie nach drei bis vier Tagen als gesund aus der Klinik entlassen werden. Auch sechs Monate nach der Geburt leidet eine hohe Zahl der Frauen unter gesundheitlichen Belastungen und Stress [9]. Die daraus entstehenden gesundheitlichen Nachteile sind noch gar nicht in ihrem gesamten Ausmaß für Mutter und Kind absehbar: Stress und Überforderung tragen nicht nur zur Entwicklung von Stillproblemen bei und können zum frühen Abstillen führen [10, 11], sondern belasten die Partner- und Elternschaft und die sichere Bindung des Kindes in der Familie. Die Stillraten in Deutschland bleiben weit hinter den WHO-Empfehlungen des ausschließlichen Stillens für die Dauer von vier bis sechs Monaten.  Zwar beginnen die meisten Mütter mit dem Stillen, doch bereits nach acht Wochen erhalten nur noch 50-70 % der Säuglinge Muttermilch [12]. Dadurch werden die bedeutsamen gesundheitlichen Vorteile, die das Stillen mit sich bringt, nicht voll ausgeschöpft.

Internationale Studien weisen darauf hin, dass bei einer frühzeitigen und regelmäßigen Einbindung von Hebammen in die Schwangerenvorsorge weniger Regionalanästhesien, Kaiserschnitte und vaginal-operative Geburten durchgeführt werden, bei der Geburt der Damm häufiger intakt bleibt und Komplikationen wie z. B. fetale und neonatale Todesfälle sowie Frühgeburten seltener auftreten [13]. Eine beziehungsorientierte Betreuung, ausgerichtet am individuellen Bedarf an kompetenzvermittelnder Unterstützung, bei im Hintergrund verfügbarem Notfall- und Komplikationsmanagement, wird als zukunftsfähiges, gesundheitsförderndes und ressourcenschonendes geburtshilfliches Versorgungsmodell angesehen [14]. Einer Studie aus Deutschland zufolge wünschen sich Frauen eine Hebamme als persönliche Ansprechpartnerin und Expertin, die sie vom Kinderwunsch an bis zum Ende der Stillzeit kontinuierlich begleitet und situations- und kontextorientiert proaktiv informiert und berät [4]. Eine Befragung in Thüringen ergab, dass Schwangere besonders zufrieden sind, wenn die Schwangerenvorsorge durch eine Hebamme und Ärztin bzw. Arzt gemeinsam oder überwiegend durch eine Hebamme durchgeführt wird [15]. Bedauerlicherweise sind viele Frauen über die Betreuungsmöglichkeiten durch Hebammen nicht ausreichend informiert [4].

Die Fachgruppe Hebammen im Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V. fordert alle gesundheitspolitischen Entscheidungsträger dazu auf, die vorhandenen Ressourcen unserer Gesellschaft für eine Versorgung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen in der Art einzusetzen, dass gesundheitsfördernde und ressourcenstärkende Wirkungen zum Tragen kommen.
Dazu  gehört:

  • Der Ausbau von Elementen einer frauen- und familienfreundlichen Geburtshilfe durch
    – die Sicherstellung der Wahlfreiheit des Geburtsortes, des Rechts auf Selbstbestimmung und auf individuelle Betreuung unabhängig vom Geburtsort für alle Frauen,
    – die flächendeckende Einführung des Expertinnen Standards „Physiologische Geburt“ [16],
    – die Abschaffung wirtschaftlicher Nachteile von Kliniken, die physiologische Geburten durchführen
    – die Schaffung von Anreizen für Kliniken zur Verbesserung des Personalschlüssels in den Gebärabteilungen für eine routinemäßige 1:1 Betreuung durch Hebammen während der Geburt sowie
    – die Verbesserung des Schnittstellenmanagements beim Übergang von der stationären zur häuslichen Betreuung in der Schwangerschaft und nach der Geburt.
  • Die Förderung der routinemäßigen und kontinuierlichen Einbindung von Hebammen in die Schwangerenvorsorge, auch in Kooperation mit Fachärztinnen und Fachärzten für Gynäkologie und Geburtshilfe, sowie zur Versorgung von Risikogruppen (z. B. für chronisch kranke oder benachteiligte Frauen oder für Migrantinnen)
  • Die Schaffung eines Angebots themenbezogener Einzelberatungen und Kurse zur Vorbereitung auf Geburt und Elternschaft, z. B. zur Ernährung, bei Angst vor der Geburt, zur Vorbereitung auf das Stillen
  • Die Aufnahme nutzerinnenzentrierter Outcomes, wie z. B. Lebensqualität und Zufriedenheit, in die Qualitätsberichte von Kliniken und Veröffentlichung dieser Daten als Informationsquelle
  • Die Sicherstellung des dringend benötigten beruflichen Nachwuchses an Hebammen unter Berücksichtigung des stark gestiegenen Bedarfs
  • Die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Ärztinnen/Ärzten bereits im Studium sowie
  • Eine verstärkte Information der Öffentlichkeit über Hebammenleistungen

Für die Fachgruppe Hebammen im AKF: Susanna Bauer, Veronika Bujny, Dr. Christine Loytved, Dr. Angelica Ensel, Ute Höfer, Hanna Ojus, Mela Pinter, Christel Scheichenbauer, Susanne Steppat, Sabine Striebich.

Quellen:

  1. Haertsch, M., E. Campbell, and R. Sanson Fisher, What Is Recommended for Healthy Women During Pregnancy? A Comparison of Seven Prenatal Clinical Practice Guideline Documents. Birth, 1999. 26(1): p. 24-30.
  2. Baumgärtner, B.S., K., Einfach schwanger? Wie erleben Frauen die Risikoorientierung in der ärztlichen Schwangerenvorsorge. 2011, Frankfurt: Mabuse.
  3. Van der Gucht, N. and K. Lewis, Women’s experiences of coping with pain during childbirth: a critical review of qualitative research. Midwifery, 2015. 31(3): p. 349-58.
  4. Ayerle, G., et al. Präferenzen und Defizite in der hebammenrelevanten Versorgung aus Sicht der Schwangeren, Mütter und Hebammen. 2016 01.10.2016; https://www.medizin.uni-halle.de/index.php?id=5170.
  5. Silver, R.M., Implications of the first cesarean: perinatal and future reproductive health and subsequent cesareans, placentation issues, uterine rupture risk, morbidity, and mortality. Semin Perinatol, 2012. 36(5): p. 315-23.
  6. Renz-Polster, H., Eingriff mit Langzeitwirkung? Folgen der Sectio für das Kind. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2012. 7: p. 54-58.
  7. Schäfers, R., Auswirkungen des Geburtserlebens auf die subjektive Gesundheitseinschätzung gesunder Frauen., in 1. Internationale Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft. Hildesheim. 23.-23.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011.Doc11dghwi09. 2011, Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; Doc11dghwi09: Hildesheim.
  8. Mergeay, C., Respekt und Zeit für das Wochenbett. Deutsche Hebammenzeitschrift, 2009. 8: p. 6-8.
  9. Grieshop, M., Gesundheitsverhalten von Müttern nach der Geburt. Eine quantitative Studie zur Gesundheitsförderung durch Hebammen. 2013, Universität Osnabrück: Osnabrück.
  10. Hinsliff-Smith, K., R. Spencer, and D. Walsh, Realities, difficulties, and outcomes for mothers choosing to breastfeed: primigravid mothers experiences in the early postpartum period (6-8 weeks). Midwifery, 2014. 30(1): p. e14-9.
  11. Froehlich, J., et al., Daily routines of breastfeeding mothers. Work 2015. 50: p. 433-442.
  12. Rubin, D., Stillen in Deutschland, in Ernährung im Fokus, AID, Editor. 2013.
  13. Sandall, J., et al., Midwife-led continuity models versus other models of care for childbearing women. Cochrane Database Syst Rev, 2016. 4: p. CD004667.
  14. Renfrew, M.J., et al., Midwifery and quality care: findings from a new evidence-informed framework for maternal and newborn care. The Lancet, 2014. 384(9948): p. 1129-1145.
  15. IGES Institut GmbH, Abschlussbericht Hebammenversorgung Thüringen. 2015.
  16. DNQP, et al., Expertinnenstandard Förderung der physiologischen Geburt. 2014, Osnabrück: DNQP.

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